Calendula

Gestern hat mir meine betagte Mutter in einem Telefongespräch mitgeteilt, dass sich die sonnenlichtigen Ringelblumen versamen und nächstes Jahr wiederkommen, sogar etwas nebenan. Damit sprach sie meine Erfahrung im eigenen Garten aus. Unterdessen wächst die Calendula fast in allen Beeten. Ich zupfe sie, wie Frauen ihre Hexenhäärchen. Die orange-gelbe Blütenpracht erleuchtet nur in wenigen Abteilen. Passt gut zu den Hindugöttern im Gartenhaus über der Liege. Eine Gärtnerin hinter dem Nachbargarten, dem des Präsidenten, hat mir mitgeteilt, dass ebenjener sich geärgert habe über den Anbau dieser invasiven Glücksblume. Sie aber halte das für schön und erfreulich. Shade haucht „this is no ordinary life“ aus dem Internet in meine Stube. Ich sitze am Tisch und schreibe online. Bald vergebe ich Leserechte und weiss, dass das jemand liest. In diesem Moment. Jetzt sind wir für einen Moment im Gedankenstrom verbunden. Mindstreaming. Erleben Emergenz von Konästhesie. Metapersonale Offenbarung. Freude am Wortklang und Gedankengang. Mein Vater wurde mütterlicherseits lange Zeit mit einer Ringeblumensalbe versorgt, die von einer Bekannten bezogen wurde, nachdem diese von meiner Mutter mit einem bestimmten Inhaltsstoff beliefert wurde, den sie ihrerseits im Ladenlokal der landwirtschaftlichen Genossenschaft bezog. Die Lieferkette wurde vor längerer Zeit durch den Tod der Kräuterfrau unterbrochen.

Ich versuche zu rekonstruieren, wie sich der Ablauf ergab. Vor dem Telefonat mit meiner Mutter hatte ich recherchiert, wie man eine Ringelblumensalbe herstellt. Und wie diese wirkt. An Hand dieser Wunderblüte habe ich Einblick in die Systematik der Produktelinien der Kräuterheilmittellehre gewonnen. Blütenöl und -tinktur, mit weiteren Zutaten zu Crèmes und Salben verarbeitet. Der Hinweis meiner Mutter auf die wohltuende Wirkung an meinem Vater und die aufsteigende Erinnerung an die Wundersalbe, die ich bei meinem Sohn bei unterschiedlichsten Symptonen erfolgreich anwendete, bei der es sich um die „echte“ Ringelblumensalbe handelt, wie ich mich jetzt vergewissert habe, haben meine Idee über Nacht zur Tatsache gemacht: Ich habe jetzt in meiner Küche ein Kräuterheilmittellabor, wobei ich ausschliesslich mit calendula officinalis hantiere. Ich stelle Arzneien zur äusseren und inneren Anwendung her. Der Wirkungsbereich umfasst das ganze Alphabet rückwärts von Zerrungen bis Afterjucken. Ich befürworte eine spielerische und zinslose Gesellschaftsform. Die Vielfalt der Möglichkeiten ist der Einfalt der Sicherheit vorzuziehen, weil sie Wahrheit wahrscheinlicher macht. Ich mag den Modus des Selbstversuches und steige ins Ringelblumenölbad, in der Hand den Calendula-Cocktail, ein Drittel Blütentinktur, zwei Drittel Moskowskaya, mit zerstossenem Eis. Blüten schwimmen im Glas und der Wanne. Pure Erleuchtung. Autopoietische Performanz anthropologischer Qualität. Ich spüre mich als Kreatur und Kreator. Genau auf der Linie zwischen negativer Theologie und Existenz-Philosophie, im Momentum des nunc stans, der Mystik des zusammenfallenden Gegensatzes.

Aus der Subjektperspektive könnte man „einfach geil“ sagen, aber das bringt es nicht auf den Punkt. Von aussen betrachtet könnte man dieses Handeln mit „der spinnt“ abtun oder für eine „gute Geschichte“ halten, das würde obige Subjektperspektive reflektieren. Faktum ist, dass es sich um eine Form meiner Ferienaktivitäten handelt. Ich rauche beim Schreiben und blase Blogs ins Internet. Schwebe über buddhistischen Bauerngärten. Und grüsse in die fernen Ferienorte.